Durch seine flache Lage und gut ausgebaute Infrastruktur ist Berlin die perfekte Stadt, um überall mit dem Fahrrad hinzukommen. Während der ersten Corona-Welle erschienen auf sämtlichen Straßen der Hauptstadt pop-up-Radwege und die Friedrichstraße wurde sogar zu einer komplett autofreien Zone erklärt. Es hieß damit mehr als je zuvor: die Städte, und insbesondere Innenstädte, sollen noch fahrradfreundlicher werden. Das Fahrrad als Mobilitätsmittel wird dadurch zu einem Schauobjekt unseres Zeitalters: nachhaltig, umweltfreundlich, lokal. Als das niederschwelligste unter den Fahrzeugen kann es zu Selbstwirksamkeitserfahrungen jeder Neu-Berliner beitragen und durch mehr Mobilität auch für Ermächtigung und mehr Möglichkeiten sorgen.
Aber was tun, wenn man schon in Berlin ist, aber weder ein Fahrrad noch die Mittel dafür hat?
Mitte letzten Jahres haben wir im Polnischen Sozialrat (PSR) den 15-jährigen Arben kennengelernt. Arben war erst seit einem halben Jahr in Deutschland, tat sich schwer mit der neuen Sprache und widersetzte sich jeglichen Versuchen seiner Betreuerin, ihn an die frische Luft zu kriegen. Etwas verzweifelt kontaktierte seine Betreuerin uns – das Patenschaftsteam des PSR. Sie verriet uns, dass Arben viel über ein Fahrrad redet – zu Hause hatte er eins, aber in Berlin nicht mehr.
Ein Wunsch, den wir gut nachvollziehen konnten – uns allen ist ein eigenes Fahrrad schon lange zu einer normalen Notwendigkeit geworden. Dabei lag die Lösung nicht auf der Hand: solche großen Gegenstände sind in existierenden sozialen Programmen nicht förderfähig. Während der Suche nach Möglichkeiten haben wir uns an Rückenwind e.V. erinnert. Wir kontaktierten sie, haben schnell eine Antwort bekommen und bald kam es auch zu ersten Strategietreffen. Zu gleicher Zeit kam die E-Mail von Türkischen Bund Berlin-Brandenburg über die neuste Ausschreibung für Förderung für Miniprojekte mit Geflüchteten „Kaleidoskop“. Und so wurde die Idee von einem gemeinsamen Vorhaben geboren.
„Rückenwind – Bikes for Refugees e. V.“ konnte seit 2015 bereits über 1500 gespendete Fahrräder reparieren, mit neuen Teilen ausstatten und an Geflüchtete weitergeben. Zu dieser Zeit hatte Rückenwind circa 700 Leute auf der Warteliste, viele engagierte Ehrenamtliche und kaum Anschluss an die öffentlichen Fördermittel. Zusammen konzipierten wir das Projekt „Nachhaltiger Weg zur Teilhabe – Fahrrad-Werkstätte für Geflüchtete“ und stellten einen Antrag auf die Kaleidoskop-Förderung. Sowohl für Martin und Jonas von Rückenwind, als auch für Franek aus dem PSR war dies ein Einstieg ins Projektwesen und damit eine wertvolle Lernerfahrung. Beim Schreiben des Antrags wurden sie durch Franeks erfahrene Kollegen aus dem Polnischen Sozialrat beraten und der TBB betreute sie ausgiebig während des ganzen Verfahrens. Wir haben die Zuwendung für unsere Idee bekommen – und konnten dabei (und auch später noch mal bei der Abrechnung) vieles von einigen wahren Professionellen lernen.
Ende Juni haben wir mit unserem Workshop gestartet – ein Projekt für Geflüchtete das von den Berliner Polen, Deutschen und Türken zusammen konzipiert wurde. Über vier Monate konnten wir in der Lenaustraße 3 in Neukölln zehn Teilnehmerinnen begrüßen, die sich jeweils über 2-3 Tage selbst ein altes Fahrrad ausgesucht und renoviert haben. Dies passierte unter stetiger Begleitung der Rückenwind-Mechaniker, die alles erklärten und mit Rat und Tat beiseite standen. Die Idee war, nicht nur Räder um sonst rauszugeben, sondern brauchbares Wissen zu vermitteln: Wirklich günstig wird Fahrradfahren ja erst dann, wenn man auch die Reparaturen selbst vollziehen kann. Um zusätzlich neue soziale Anknüpfungspunkte zu schaffen, wurde das Ganze an das Patenschaftsprogramm „Gemeinsam.Schaffen“ angelehnt – zu jedem Treffen kam eine ehrenamtliche Patin dazu, die unsere Teilnehmerinnen bei den Reparaturen unterstützte.
Der junge Arben war unserer erster Gast – direkt nach dem dritten Werkstatt-Tag ist er mit seinem Paten (und dem „neuen“ Fahrrad) auf eine Tour quer durch Berlin gefahren. Danach konnten wir uns noch zusätzlich mit Albatros gGmbH aus Köpenick vernetzen, und einige deren Schützlinge auch zu unseren Werkstätten einladen – unter anderem auch eine Mutter mit ihren drei Kindern.
Es war toll zu beobachten, wie motiviert sich alle an die Arbeit machten – und wie stolz, besonders die jüngeren, sie am Ende über ihre eigene Reparaturarbeiten waren. Die frohen Gesichter sowohl der Teilnehmenden als auch der involvierten Ehrenamtlichen, Mechanikern und Projektleitenden, neue Bekanntschaften und Erfahrungen – unbezahlbar.
Dieses Projekt wurde umgesetzt im Rahmen des Vergabeverfahrens KALEIDOSKOP2020 beim Türkischen Bund in Berlin-Brandenburg e.V. und wurde finanziert aus Mitteln der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales | Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten Berlin.